Sorge vor Bodenoffensive in Rafah wächst
Israels geplante Militäroffensive auf die mit Palästinensern überfüllte Stadt Rafah im Süden des abgeriegelten Gazastreifens stösst international auf immer mehr Kritik.
Ägypten baut aus Sorge vor einer Massenflucht aus dem angrenzenden Küstenstreifen einem Medienbericht zufolge in der Wüste nun ein massives Auffanglager eingeschlossen von hohen Betonmauern für Zehntausende Menschen auf. US-Präsident Joe Biden mahnte in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu erneut den Schutz der mehr als eine Million Zivilisten in Rafah an. Er habe bekräftigt, "dass eine Militäroperation nicht ohne einen glaubwürdigen und durchführbaren Plan zur Gewährleistung der Sicherheit und Unterstützung der Zivilbevölkerung in Rafah stattfinden sollte", teilte das Weisse Haus in der Nacht zum Freitag mit. Zuvor forderte auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock beim Besuch in Israel Schutzkorridore in den Norden.
Bericht: Lager in Ägypten könnte mehr als 100 000 Menschen aufnehmen
Seit Wochen versucht Ägypten, die Sicherheit entlang der Grenze zum Gazastreifen mit Soldaten, Zäunen und gepanzerten Fahrzeugen zu erhöhen, um zu verhindern, dass es zu einem Ansturm verzweifelter Palästinenser auf die Halbinsel Sinai kommt. Ägypten hat laut dem "Wall Street Journal" angeblich sogar gedroht, seinen Friedensvertrag mit Israel aufzukündigen, sollte es dazu kommen. Wie die US-Zeitung am Donnerstag unter Berufung auf ägyptische Beamte und Sicherheitsanalysten berichtete, baut Ägypten jetzt in der Wüste nahe der Grenze auf einer Fläche von 20 Quadratkilometern ein Auffanglager, in dem mehr als 100 000 Menschen untergebracht werden könnten. Das entspricht der Einwohnerzahl von Cottbus. Das geplante Lager sei weit von ägyptischen Siedlungen entfernt gelegen, hiess es.
Sollte sich Israel zu der Offensive entschliessen, würde das israelische Militär versuchen, die Zivilbevölkerung von Rafah nach Norden - aus der Kampfzone heraus, aber innerhalb des Gazastreifens - zu verlagern, zitierte die Zeitung einen ranghohen Vertreter des israelischen Militärs. Netanjahu hatte dem Militär kürzlich den Befehl erteilt, Pläne für eine Offensive auf Rafah sowie für die Evakuierung der dortigen Zivilisten vorzulegen. Es gehe darum, die letzten Kampfeinheiten der islamistischen Hamas zu zerschlagen. In Rafah halten sich nach UN-Angaben derzeit rund 1,3 Millionen Menschen auf. Die meisten flohen vor dem Krieg aus anderen Teilen des Gazastreifens dorthin, zum Teil auf Anordnung des israelischen Militärs.
Israels Armee beginnt Einsatz in einer Klinik
Israels Armee begann derweil nach eigenen Angaben am Donnerstag einen Einsatz in einer Klinik in Chan Junis, das wie Rafah im Süden Gazas liegt. Soldaten drangen in das Nasser-Krankenhaus ein, um Leichen von Geiseln zu bergen, teilte das Militär mit. Es seien Dutzende Tatverdächtige festgenommen worden, sagte der israelische Militärsprecher Daniel Hagari am Donnerstagabend. Einige seien am Massaker in Israel beteiligt gewesen. Aus Verhören mit den Verdächtigen sowie dank Aussagen der freigelassenen Geiseln könne die Armee bestätigen, dass aus Israel entführte Menschen auf dem Gelände der Klinik festgehalten wurden. Es lägen zudem Information vor, dass sich dort auch Leichen von Geiseln befinden.
Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen erhob nach dem Einsatz Vorwürfe gegen Israel. "Die Operation scheint Teil eines Musters zu sein: Israelische Streitkräfte greifen lebenswichtige zivile Infrastruktur an, insbesondere Krankenhäuser", sagte UN-Menschenrechtssprecherin Ravina Shamdasani am Donnerstagabend in Genf. Israels Armeesprecher Hagari betonte, das Militär sei bei allen Einsätzen in Krankenhäusern im Gazastreifen im Einklang mit dem Völkerrecht vorgegangen und werde dies auch weiterhin tun. "Wir haben nicht die Absicht, den Betrieb des Krankenhauses zu stören", sagte er.
Netanjahu: Israel lässt sich nicht zu Zweistaatenlösung zwingen
Israels Ministerpräsident Netanjahu bekräftigte unterdessen nach dem Telefonat mit Biden seine Ablehnung einer Zweistaatenlösung. "Israel lehnt das internationale Diktat hinsichtlich einer dauerhaften Regelung mit den Palästinensern kategorisch ab", schrieb Netanjahu in der Nacht zum Freitag auf X. Eine solche Regelung könne nur durch direkte Verhandlungen zwischen den Parteien und ohne Vorbedingungen erreicht werden. Israel werde sich auch gegen die einseitige Anerkennung eines palästinensischen Staates wehren. Dies würde den Terrorismus "belohnen und jede künftige Friedensregelung verhindern", schrieb er.
Israel hat laut der israelischen Zeitung "Maariv" die Sorge, die USA könnten im Rahmen der Bemühungen um eine Zweistaatenlösung einen palästinensischen Staat auch ohne Zustimmung Israels anerkennen. Mit einer Zweistaatenlösung ist ein unabhängiger palästinensischer Staat gemeint, der friedlich Seite an Seite mit Israel existiert. Auch die islamistische Palästinenserorganisation Hamas, die 2007 ein Jahr nach ihrem Wahlsieg gewaltsam die alleinige Macht im Gazastreifen an sich gerissen hatte, lehnt das ab.
Auch Sunak warnt vor Folgen einer Offensive in Rafah
Grossbritanniens Premierminister Rishi Sunak schloss sich unterdessen den internationalen Warnungen vor den Folgen eines Militäreinsatzes in Rafah an. Sunak habe am Donnerstag mit Netanjahu telefoniert, teilte die Regierung in London mit. Sunak habe dabei erklärt, dass Grossbritannien zutiefst besorgt sei wegen des Verlusts von Menschenleben in Gaza und der "potenziell verheerenden humanitären Folgen einer militärischen Intervention in Rafah". Es habe Priorität, eine humanitäre Pause zu verhandeln, um die Freilassung der Geiseln und deutlich mehr Hilfslieferungen nach Gaza zu ermöglichen. Sunak forderte Israel zudem auf, den Grenzübergang Kerem Schalom vollständig zu öffnen.
Israel fordert UN zu stärkerer Verteilung von Hilfsgütern auf
Israel hat unterdessen die Vereinten Nationen aufgefordert, die Verteilung von Hilfsgütern für die Menschen im Gazastreifen zu verbessern. Seit Tagen würden Hunderte Lastwagen-Ladungen mit humanitären Hilfsgütern am Grenzübergang Kerem Schalom nicht abgeholt, schrieb die für Kontakte mit den Palästinensern und humanitäre Hilfe zuständige israelische Cogat-Behörde am Donnerstag auf der Plattform X. Hilfsorganisationen werfen Israel vor, die Verteilung von Hilfsgütern zu blockieren. Die Cogat-Behörde dementiert das. Israel kontrolliere mehr Lastwagen als letztlich von den Vereinten Nationen abgefertigt und weitergeleitet würden. Bundesaussenministerin Baerbock sprach sich am Donnerstag in Israel für deutlich mehr Hilfslieferungen aus - konkret 500 Lastwagen am Tag. So viel Lkw mit humanitären Gütern fuhren vor Kriegsbeginn täglich in das abgeriegelte Küstengebiet. Baerbock forderte in Israel dafür auch die Öffnung weiterer Grenzübergänge.